Auszüge aus einer Lesung

des Buches "Menschenversuch"

Sprecherin: Der Kollage-Roman beginnt mit der Schilderung eines Unfalls. Karl Ernst, Börsenmakler und notorischer Linksfahrer, wie es heißt, ist in Eile:

Einmal in der weit gestreckten Autokolonne erwachte Karls Abenteuerlust. Er wechselte zur linken Spur und beschleunigte kontinuierlich. Sein Jagdtrieb, mit einer gewissen Lust an Gefahr für sich selbst gespickt, nahm Besitz von ihm. So fuhr er im Morgengrauen auf das Autobahnkreuz zu. Die Trabantenstadt, die sonst östlich von der Autobahn auftaucht, blieb an diesem Tag ebenso hinter den weißen Schleiern verborgen wie die vielen Einzelschicksale der dort lebenden Menschen.

Die Tachonadel hatte 100 km/h längst überschritten, als der Straßenbelag abrupt wechselte. Ein Streufahrzeug hatte wohl den harten Schneebelag in eine matschige Unterlage verwandelt. Karl registrierte das zu spät. Wie aus dem Nichts tauchte vor ihm eine dunkle Wand auf; ein mit Langholz beladener Schwerlaster. Dem sonst so trickreichen und reaktionsschnellen Karl blieb keine Chance. Sein hilfloser
Bremsversuch stellte den Wagen quer, schleuderte ihn mit der ganzen Wucht seiner mittlerweile 130 km/h gegen die Stoßstange des querstehenden Lasters.

Karl, der sich selbstsicher nicht angeschnallt hatte, löste sich vom Sitz, und sein Körper wurde durch die vom Aufprall aufgerissene Tür katapultiert. Für Bruchteile von Sekunden nahm er nur noch sanftes Rauschen und bunte Bilder wahr, dann schlug er mit der Stirn gegen die Leitplanke. Regungslos lag er mit seinem eleganten Anzug in einem Schneehaufen, den das Räumfahrzeug am Rande der Trasse aufgeworfen hatte. Augen und Mund waren weit geöffnet. Sein so stolzes Bewußtsein hatte ihn verlassen; äußerlich kaum gezeichnet, wirkte er wie ein Schlafender. Nur die Bluttropfen, die aus Ohren, Nase und Mundwinkeln in den Schnee tropften, verrieten seinen Zustand.

*

Zwischen Schläuchen, Kanülen und Infusionsgestellen wirkte der sonst so strahlende und selbstbewusste Börsenmakler hilflos und abhängig. Seine Gesichtszüge waren jedoch entspannt. Die vielen medizinischen Geräte und Monitore erinnerten eher an den Leitstand einer Rakete als an eine Krankenstation, in der um Leben und Tod von Menschen gerungen wird. In dieser technisch perfekten Welt gab es kaum Körperkontakte. Die Pfleger und Schwestern beobachteten ihre Patienten hinter Glas aus Kabinen heraus. In Karls Krankenblatt, das am Fußende des Bettes baumelte, hatte der Oberarzt der Station einen doppelten Schädelbasisbruch diagnostiziert. Die Oberschwester kontrollierte die Linien auf den Monitoren. Puls und Blutdruck hatten sich stabilisiert. Was Oberschwester Margret Sorgen bereitete, waren seine Gehirnströme. Bizarre Ausschläge auf dem Elektroenzephalograph machten sie stutzig, da sie nicht mit seiner schweren Kopfverletzung in Verbindung stehen konnten.

Sprecherin: Karl Ernst wurde – unfreiwillig – zum Vermittler eines Göttertraums. Alpha, die sich ihm im Koma bedient, steht nämlich dem zwar geschaffenen, aber sich ganz unerwartet entwickelnden Leben auf dem Planeten Erde skeptisch gegenüber. Natur und Naturzerstörung, Frieden und Krieg, Liebe und Hass, Selbstlosigkeit und Arroganz der Macht sieht sie in den zweibeinigen Erdenbewohnern wirksam:

Und sie beteten zu allen Zeiten Götter an und gaben ihnen ihre Namen. Alphas Geist musste über die Mühe menschlicher Erfindungsskünste lächeln. Sie erdachten Sonnengötter und Unterweltgötter, angsteinflößende, liebevolle, kämpferische oder meditierende Götter, Technikfetische und Naturgötter. Von allen Religionen, die sich die Menschen selbst verschrieben, war ihr die Verehrung der Naturgötter am sympathischsten. Sie mussten erkannt haben, dass Alpha zu allen Zeiten und Formen in der Natur zu finden war. Deshalb war sie auch zunehmend erbost, wie verantwortungslos diese Menschen mit ihrer Schöpfung umgingen, wie ungerecht die Schätze des Planeten verteilt waren und wie ehrfurchtslos sich die Menschen dem Göttlichen gegenüber verhielten. Haben dominierte die Erde, nicht das Sein.

Sprecherin: Alpha beschloss, sechs Lebewesen auszuwählen, deren Selbstdarstellung ihre Neugier nach diesen Formen des Lebens befriedigen sollten:

Zunächst entschied sie sich für einen schillernden Lachs, im Wasser der Bergwälder geboren und in der Weite des Meeres aufgewachsen; dann für einen tausendjährigen Baumriesen aus dem Regenwald, an dessen Rinde ein rot aufgesprühtes Kreuz sein nahes Ende markierte. Es folgte ein Bauer, der zwischen Streben nach Wohlstand und der Zerstörung seiner Erde verging sowie eine Rebellin, die ihr Leben lang gegen Unterdrückung und Armut kämpfte. Schließlich wählte sie noch einen Chemiearbeiter, der zwischen Sinn und Unsinn seiner Arbeit schwankte sowie den Manager eines Atomkonzerns, dessen einzige Aufgabe das illegale Verschieben von Atommüll zu sein schien.

Sprecherin: Die eigenen Stimmen dieser von Alpha ausgewählten Götterbilder klingen sehr verschieden – sie sind von den fünf – daher der lateinische Name Quintus – Autorinnen und Autoren aus sehr unterschiedlichen Sichtweisen heraus formuliert worden. Hören wir ein paar Ausschnitte. Zuerst vom Baumhaus, der Ballade vom Untergang des Regenwaldes:

Von der Stunde an, in der ich als Samen auf die Erde fiel, hatte ich nur ein Ziel: diesen Platz nie mehr zu verlassen. Deshalb strecke ich mich nicht nur der Sonne entgegen, sondern bohre mich gleichzeitig in die Finsternis. Ich bin ein Lebewesen dessen Bewusstsein zwischen hell und dunkel pendelt aber aus beidem Kraft schöpft. Meine Blätter sind süchtig nach Licht, meine Wurzeln aber lechzen nach nasser Dunkelheit, fürchten die Sonne. Ich klammere mich an das Stück Erde, zugleich wächst in mir die Angst, meinen Boden zu verlieren. Ich liebe zwar den Wind, wenn er mir voll fremder Botschaften durch die Krone streicht, aber ich hasse den Sturm, der mich entwurzeln könnte. Ich ruhe fest und verschlossen in mir und öffne doch täglich meine Krone dem Licht. Mein Horizont wächst von Jahr zu Jahr, bleibt aber endlich. Wenn der Himmel das Dach dieser Welt ist, so bin ich ein schützendes Haus auf der Erde.

An mir sind Jahrhunderte vorbeigezogen wie Zugvögel über Niemandsland. Die einzelnen Tage sind nur winzige Zeitpünktchen in meiner Geschichte; ich fühle in Jahren und Jahrzehnten. Unzählige Generationen von Lebewesen haben sich von mir ernährt, unter mir Schutz gesucht oder sich in meinem Schatten geliebt. Niemals überkamen mich Zweifel über den Sinn meiner Existenz. Mein bester Freund ist der warme Regen, der seit Anbeginn auf mich niederfällt. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass er eines Tages ausbliebe. Das wäre das Ende.

Seit wenigen Wochen trage ich ein rotes Kreuz auf meiner Rinde. Es beunruhigt mich, brennt auf meiner Baumhaut. Rauhe Zweibeiner tauchten eines Morgens vor mir auf, hieben sich hemmungslos einen Pfad durch den Dschungel. Sie schrien laut miteinander und lachten verächtlich, bevor sie die Farbe auftrugen. Mich stört nicht das Symbol, denn ich bin aufgewachsen unter dem Kreuz des Südens, das mir manchmal leuchtet wenn die Wolkendecke für wenige Stunden aufreißt und den Nachthimmel freigibt. Nein: es war die brutale Art, mit der sie in unser Reich eindrangen, die mich stört. Ich fürchtete, sie sind nur Vorboten von Schlimmerem.

Sprecherin: Oder von der jungen Frau Anna, die zur Widerstandskämpferin gegen Unterdrückung wird:

Viele Jahre hatte ich in Dunkelheit verbracht und je dunkler es um mich wurde, um so klarer wurde es in meinem Innersten. Fast so, als würde ich in den eigenen Kellergewölben umhergehen und Gespenst nach Gespenst mit einer Fackel beleuchten. Ein wichtiger, aber schonungsloser Film, der immer wieder in mir abläuft. Ich sehe mich als kleines Mädchen auf dem Handkarren meines Vaters sitzen. Noch heute tauchen Gerüche auf, vertraute Gerüche nach nassem Schmutz und Verwestem. Dann ist mir, als würde meine ganze Haut danach riechen und ich gerate in den Zwiespalt, sofort duschen zu wollen während mir doch gleichzeitig dieser elende Geruch so vertraut ist, dass ich ihn halten möchte.

Drei Jahre war ich, als mich mein Vater zum ersten Mal in diesen Teil unserer Stadt mitnahm, der so völlig anders aussah als der Ort, wo ich mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern wohnte: Eine kleine Baracke, die etwas mehr Schutz bot als die Pappkartons, die viele als ihr Zuhause bezeichneten. Mama arbeitete in einer dieser großen Lederfabriken und um unser Haus flossen die Abwässer der Fabrik und töteten alles was grün war, und Halt in dieser Erde zu finden suchte.

An diesem Abend war es kalt und Mama hatte mir eines ihrer dicken, bunten Tücher um die Schultern gebunden und übers Haar gestrichen. Daran erinnere ich mit noch so genau als wäre es heute, denn diese Art liebevoller Geste hätte ich mir öfter gewünscht. Ich schloss die Augen und spürte die traurige Zärtlichkeit meiner Mutter. Die Nacht mit all dem Neuen und Unbekannten und die Gegenwart meines Vaters vorn an der Deichsel...

Sprecherin: Und das ist der Atomfuchs, das ungeschminkte Selbstgespräch dieses Krisenmanagers eines Energiekonzerns:

Wenn wir keine Ideen hätten, könnte das Baureferat doch dicht machen; statt dessen schmeißen die einem immer neue Steine in den Weg. Die Referentin neulich war echt das Letzte – schon wie die aussah, da hätte sich nicht einmal ein Nilpferd rangetraut. Und dann ihre Argumente: Die Baugenehmigung für den Reaktor müsse erneut überprüft werden, weil das Gelände am Fluss nicht nur hochwassergefährdet ist, sondern weil die Gegend überdies nicht als erdbebensicher gilt. In Bayern! Da zittert die Erde doch nur, wenn solche Figuren wie die drauf rumtrampeln. Was wäre das für ein Zeit- und Lust-Gewinn, wenn diese ganzen Bedenkenträger und Aktenbestäuber in den Zoo geschickt werden könnten!

Überhaupt – Marktwirtschaft pur ist doch ein klasse Ausleseprozess; je weniger Regeln und Gesetze, umso besser. Die sind ja bloß von Wichtigtuern und Spargelköpfen erfunden worden, die Angst davor haben, man würde sie sonst gar nicht bemerken. Mit Recht. Was bringen die der Gesellschaft, was bringen die mir eigentlich ein? Und dann diese angebliche Rücksicht auf Arbeitslose. Dass ich nicht lache! Wer zu blöd ist, abzusahnen, der hat doch selber schuld – muss man das auch noch prämiieren? Das ganze Geld, was da rausgeschmissen wird, wäre woanders besser aufgehoben. Zum Beispiel bei mir.

Sprecherin: Schließlich noch die Erinnerungen eines Lachsweibchens. Nur gegen den Strom erfüllt sich ihr Leben. Auch wenn sie am Ende der Menschenwelt zum Opfer fällt: sie besteht die Lachsprobe:

Wir erlangten unser junges Bewusstsein erst in der Weite des planktonreichen Ozeans. Behütet und beschenkt von diesem Gabentisch, ausgestattet mit einem perfekten Geruchssinn, wuchsen und gediehen wir prächtig. Die Nahrung flutete wie von selbst in unsere offenen Mäuler. Unsere Schuppenleiber hatten ihre Jugendflecken abgelegt, blitzten tausendfach in der Bläue. Im Schwarm glänzten unsere stahlblau-grünlichen Rücken wie Pinselstriche großer Meister und die vielen schwarzen Tupfen auf unseren Leibern machten selbst die beschaulich dahinschwimmenden Wale schwindelig.

Unser besonderes Kennzeichen aber ist ein heller Fleck an der Fettflosse, den unsere Brüder und Schwestern, die Silberlachse, Fenster zum Licht nennen. Niemand von uns konnte sich vorstellen, jemals allein zu sein. So schossen wir übermütig, jung durch die Fluten und sammelten stets unterwegs auf der Suche nach Neuem spielerisch unsere ersten sexuellen Erfahrungen. War uns langweilig, stellten wir uns auf die Lachsprobe: Mit starken Schwanzschlägen erhoben wir uns bis zur Brustflosse aus dem Meer, schossen stehend im Wettkampf voran. Doch die Welt über dem Wasser war verschwommen, blieb uns fremd.

Sprecherin: In scheinbar unwirklichem Disput versammelt die Göttin diese Gestalten um den im Koma abgelösten Geist des Börsenmaklers als ihren Moderator: „Wir wünschen uns dass sie zusammen mit Lebewesen dieses Planeten Kriterien für eine vernunftbezogene, ökologisch ausgerichtete Intervention erarbeiten, sie sollen Grundlage unseres künftigen Handels sein“:

Und seltsam: Noch während ihre irgendwie übernatürliche Stimme in ihm widerhallte, schienen ihm die Gestalten am Tisch wie ferne Bekannte, obwohl – oder vielleicht weil? – sie so undurchsichtig wie Negativfolien blieben. Konnte es sein, dass sie ihm begegnet waren, vielleicht sogar eine Rolle in seinem wirklichen – nicht dem virtuellen – Leben gespielt hatten? Oder sah er in ihnen nur Prototypen von Lebewesen, wie ihm das die Sprecherin nahegelegt hatte? Und was sollte er ihnen sagen? Er kam mit seinen Gedanken nicht zurecht und beschloss erst einmal zuzuhören. Denn die Gestalten hatten einen Dialog begonnen – so selbstverständlich, als redeten sie jeden Tag miteinander. Und, als säße er gar nicht mit am Tisch.

Aber den Befunde des Disputs der Lebewesen fehlt ein wesentlicher Bereich, der als anderer, dritter Faden durch das Buch zieht: die Geschichte eines Autors, in der sich die Schicksale der Lebewesen reflektieren. Wo kommt er her?

Mein Leben begann in gedrückten Verhältnissen: der Vater Arbeiter in einem Metallbetrieb an der Küste und die Mutter Putzfrau. Wir lebten zu dritt in einer billigen Wohnung am Stadtrand – mit Kanonenofen und Außentoilette. Weil wir Brennstoff sparen mussten, ging ich im Winter ins Postamt, um dort die Schularbeiten zu machen; manchmal nahm mich auch einer der Schulfreunde mit nachhause. Ferienreisen konnten wir uns nicht leisten; so versuchte ich statt dessen, durch Zeitungs- oder Brötchenaustragen dazu zu verdienen. Mit zehn musste ich wie alle anderen in die Jugendorganisation der herrschenden Partei eintreten. Ich hasste den militärischen Drill, die Uniformen (die wir selbst kaufen mussten), die geistlosen Aufmärsche oder sogenannten ‚Heimabende‘ und drückte mich davor, so oft ich konnte.

Meinem Vater gefiel das und er gab mir Rückhalt, anders als die ängstliche Mutter. Und weil es zu sehr aufgefallen wäre, mich immer wieder mit Krankheit zu entschuldigen, wenn ich doch für alle sichtbar in der Schule war, verfiel er zum Beispiel auf die Idee mit der Kirche. Die Mutter hatte darauf bestanden, mich katholisch taufen zu lassen, obwohl der Vater nichts von Religion hielt und beim Anblick einer Prozession einmal „Opium fürs Volk” murmelte. Aber er ließ meine Mutter gewähren und besuchte nun sogar den Pfarrer mit der Bitte, mein Fehlen bei militärähnlichen ‚Diensten‘ der Jugendorganisation zu decken: als Gehilfen des Kirchendieners zum Beispiel. Denn damals umwarb das Regime noch die Kirchen, um mehr Zustimmung zu finden. Der Pfarrer spielte
solange mit, bis ihn ein regimetreuer Kirchgänger denunzierte und er schließlich sogar
abberufen wurde.

Sprecherin: Karl Ernst, den inzwischen wieder Erwachten, suchen auf der Kur am See immer wieder Träume heim:

Das Licht ist erloschen. Baumzweigschatten zittern im Licht der Straßenlampen über die Wände; zarte Äste rascheln gegen das Fenster, in den Knospen den Saft des Frühlings eingeschlossen. Und unmerklich verwandelt sich wieder meine Welt.

Silbrige Olivenblätter schlagen mir ins Gesicht, frischer Orangensaft klebt an meinen Fingern. Vom Meer her weht der Morgenwind die eingesammelten Gewürzdüfte. Unter einem Olivenbaumdach setze ich mich nieder, schütze mich vor der Hitze, spüre den rauen, tausend Jahre alten Stamm in meinem Rücken. Jede Zerklüftung seiner Rinde kopiert sich auf meine nackte Haut. Über der Bucht liegt ein blasser Schleier; in der Ferne schimmern die weißen Häuser des Hafens. Landarbeiter ernten Orangen, singen fremde Lieder. Ihr Schweiß tropft in den roten Staub, verdampft.

Mein Baumhaus ist ein Riese. Regentropfen mit Orchideenpollen fallen auf mein Gesicht, verlieren sich in den Mundwinkeln. Es riecht nach Walderde. Das Moos, auf dem ich ruhe, dampft. Vögel und Affen kreischen Lust und Leid durch den Mittag. Meine Augen sind geschlossen. Ich erlausche das Leben des Waldes. Dunkle Wolken treiben durch die Baumkronen; Regen prasselt auf mich nieder. Ein Rinnsal schwillt zum reißenden Strom.

Nachmittags tauche ich in den Fluss, schwimme gegen die Strömung. Klares Wasser, mit feinen Luftblasen durchperlt, fließt mir gegen die Stirn, berauscht mich. Kieselsteine blitzen unter mir wie versunkener Sternenhimmel und das Licht verschwindet in Gischt. Auf dem Flussbett finde ich nassen Schlaf im ewigen Murmeln des Wassers. Strömung presst mich auf die Kiesel.

Gewaltsam aufgetaucht am späten Abend. Abendroter Himmel. Blut in Mundwinkeln, von Soldatenschlägen. Stiefel im Genick und Angst. Kopf unter Wasser getaucht bis zur Bewusstlosigkeit. Hochgerissen an meinen Haaren. Wieder und wieder getaucht. Getreten. Wasser färbt sich rot mit meinem Blut: kein Abendrot. Es fließt hinab zum Meer. Junge Lachse riechen Menschenblut. Stille.

Auf Deck eines Ozeanriesen erwache ich. Hämmern von Schiffsmotoren betäubt mich. Ein Arbeiter flößt mir Schnaps ein. Dunkle Augen, in gerötetem Gesicht blicken mich prüfend an. Starke Arme heben mich hoch, schleifen meine tauben Beine über Stahlplatten zur Kajüte. Sein Arbeitsanzug riecht nach Gift,
sein Körper nach Öl.

„Du bist ein Nichts“, sagt ein bierbäuchiger Glattrasierter nachts. Steht am Kojenrand und grinst verächtlich, ein glitzerndes Rohr in der Hand. „Riech mal dran“, sagt er spöttisch und hält mir das Ding unter die Nase. Mir wird schwindlig. Einen Moment kalten Stahl an der glühenden Wange. Dann: Nichts.

Sprecherin: Am Ende trifft sich der Autor mit dem langsam genesenden Karl Ernst und hört sein skeptisches Fazit:

„Was soll diese ganze Veranstaltung?“, sagt die rostige Stimme: „Tage und Nächte, Sonnen und Monde verschwinden, tauchen wieder auf; Vögel fallen vom Himmel, Fische kriechen ans Land und wir machen uns Gedanken, wie wir am schnellsten zu Kohle kommen. Wir führen Kriege und horten Gold: auf so was kommt kein anderes Lebewesen. Hieronymus Bosch hat Einsiedler gemalt und ihre Dämonen; ich sitze hier, die Zeit vergeht – dabei würde ich am liebsten die ganze Zivilisation in den Orkus schmeißen.“

Und so geht es weiter. Immer wieder von langen Pausen unterbrochen, unterlegt vom Kreischen der Möwen oder einem fernen Motor, operiert und seziert dieser zum Krüppel gewordene Manager die Heiligtümer seines früheren Lebens. Aber nicht nur das. Wenn er den Tanz ums goldene Kalb auf Märkten und Börsen verachtungsvoll geißelt, geht er mit Philosophen und Religionen eher nachsichtig um, begütigend fast, als wollte er sagen: Sie wissen es halt nicht besser und mussten ja vor allem ihre Konkurrenten ausstechen.

Während das Wasser vor unseren Füßen Schneereste verschluckt, will ich ein paarmal einen Einwurf machen, aber er lässt mich nicht zu Wort kommen. Ich stehe noch immer neben seinem Rollstuhl, frierend unter Krähenschwärmen. Doch gerade als meine Gedanken abschweifen und ich die seltsame Szene wie von außen betrachte, schießt Ernst’s Monolog in einer Frage zusammen, die er mir hinwirft:

„Sagen Sie mir: was macht das Weiterleben in dieser Welt für einen Sinn? Wenn mir schon die großen Geister nicht weiterhelfen – welchen Sinn hat das Leben von Bauern und Bonzen? Von Tieren und Pflanzen? Von Einsiedlern vielleicht?“

Dem Autor fällt die Antwort schwer – als zöge Nebel vom See über Gedanken und Bilder der Vergangenheit:

Seit dem Tod von Lea hat mich diese Frage umgetrieben, haben mich die Zwänge immer neuer Entscheidungen brutal darauf gestoßen. Und ich konnte nur alle beneiden, die sich aus Angst vor eigenen Antworten unters Dach von Religionen oder Ideologien flüchten. So fällt mir auch jetzt noch die Antwort schwer – als zöge der Nebel vom See über die Gedanken und Bilder der Vergangenheit. Ich blicke ins Ungewisse und sage wie zu mir selbst: Diese Suche nach Sinn ist kein Fehler. Wir Menschen brauchen vielleicht so was wie Sinn, um uns daran festzuhalten – oder doch wenigstens die Suche danach. Was sonst soll uns Rückhalt geben? Die Arbeit, die uns kaputt macht? Der Boden, in den wir uns noch krallen wenn das Haus abbrennt oder Tiere und Pflanzen eingehen? Die Liebe, die uns immer zur falschen Zeit im Stich lässt ? Andere Kreaturen stellen keine solchen Fragen und leben doch – würden sogar besser leben, wenn es die Menschen mit ihrer fanatischen Suche nach Sinn nicht gäbe.

Wenn aber solcher Sinn in Wahrheit nicht mehr als die Lebenshilfe ist, die jeder braucht (oder zu brauchen glaubt) – warum verzichten sie dann nicht darauf, ihren Sinn anderen aufzuzwingen, gleichgültig mit welchen Begründungen ? Die Welt ohne diesen Zwang – das wäre die friedliche Welt, Toleranz als Prinzip. Grundstein, vielleicht Bauplan des Lebens?

Als ich zu dieser Einsicht komme, scheint sich der Nebel zu verändern; Bäume, Vögel und auch Karl Ernst verschwinden vor meinen Augen in einer grünlichen Weite. Ich bin allein.